Reden wir doch einmal über die Kastanienallee in Nordend. Seit Generationen wohnen wir im heutigen Ortsteil Rosenthal in dieser Allee, und das, solange es die Kastanienallee bereits gibt.
Meine Vorfahren waren dabei, als in den Jahren 1873/74 mehrere Rosenthaler Bauern von der Nordend-Baugesellschaft ein größeres Gelände kauften, darauf Straßen und Gehwege anlegten sowie das Bauland parzellierten. Hier sollte die Villenkolonie Nordend entstehen.
Nach dem errichteten achten Gebäude war das Geld alle. Die Notunterkünfte in den Baubaracken wurden meistens von mittellosen Menschen bezogen. Die Kolonie Nordend hatte 1875 bereits 108 Bewohner. Die Kinder besuchten mit langem Schulweg die dreiklassige Dorfschule in Rosenthal. Im Jahre 1890 waren es mehr als 50 Schulkinder. Da wurde in der Kastanienallee 15, dem Zentrum der Straße, dem damaligen Kronprinzenplatz, auf Forderung der Regierung 1894 eine eigene Schule eingeweiht.
Das Gebäude steht heute noch an einem Rondell. Dort gingen meine Großmutter und ihre vielen Geschwister zur Schule. Der heute namenlose Platz mit dem alten Schulbacksteinbau und mit der Pumpe, die zur Berliner Notwasserversorgung gehört, stellt ein wesentliches Zeugnis der Siedlungsgeschichte unserer Kolonie Nordend dar. Im wörtlichen Sinne ist er hier noch begeh- und berfahrbar.
Nur die von Rosenthal 1909 gebaute Kirche steht nicht in der Kastanienallee. Sie entstand am damaligen Rosenthaler Grenzweg, der heutigen Kirchstraße. Der Pfarrer von Rosenthal hatte es bis zum Gotteshaus nicht so weit. Diese Kirche besteht, ähnlich der in Wilhelmsruh, aus einem schönen Kirchenverwaltungsgebäude mit einem großen Gemeindesaal im Jugendstil. Ein kompletter Kirchenbau kam nicht zustande, da sich durch die Anlage der Rieselfelder und durch die drei großen Friedhöfe von Berliner Stadtgemeinden sowie durch den Straßenbahnhof die Kolonie Nordend nicht weiter ausdehnen konnte. Die Kastanienallee hatte Kopfsteinpflaster und war nur kurz. Bei der Hausnummer 20 endete sie. An einem verfallenen Gebäude auf der anderen Straßenseite ist die Nummer 22 zu sehen.
Von da zählte es wieder zurück. Soweit waren hier auch die Kastanien gepflanzt. Daran anschließend führte ein ungepflasterter Feldweg bis zur Hauptstraße nach Wilhelmsruh. Die jetzige Friedrich Engels Straße gab es damals auch noch nicht. Der frühere Kaiserweg reichte auf einer Karte von 1911 nur bis kurz vor die Nordendstraße Durch den Betrieb der Strassenbahn nach Rosenthal wurde hier erst 1914 eine Verbindung hergestellt.
Schon vor 1900 ging der Weg nach Rosenthal die Schönhauser Straße entlang, die die Kastanienallee kreuzte. Zwanzig Jahre später wurde die Kastanienallee als Verbindungsstraße bis zur im Jahre 1890 gegründeten Kolonie Wilhelmsruh weiter ausgebaut und wie der bestehende Alleenteil mit Kastanien bepflanzt. Die nasse Senke an den heutigen Winkelwiesen verursachte immer wieder Fahrbahnprobleme. Darum wurden in den 30er Jahren die Straßen in diesem feuchten Bereich mit dem Aushub des Nordgrabens aufgeschüttet. Unser Flüsschen ist der Zingergraben, der die Kastanienallee kreuzt. Wie lebte es sich in Nordend, dieser Kolonie von Rosenthal, als die sie einmal gegründet worden war?
Viele Gärtnereien siedelten sich hier an. So entstand zum Beispiel aus dem Bauernhof meines Urgroßvaters Albert Schulze durch die Heirat von Gustav Preuß mit der ältesten Tochter Selma eine der größeren Gärtnereien.
In der Kastanienalle waren die Bewohner mit allem versorgt. Es gab hier u.a. einen Tischler, einen Kohlenhändler, zwei Abmelkbetriebe (in diesen wurden ausgesonderte Kühe in ihrem letzten Lebensjahr vor der Schlachtung „vom Fleische gemolken“), einen Schlächter, einen Frisör, einen Kolonialwarenhändler, einen Bäcker, einen Fleischer, eine Gaststätte sowie viele kleine Gewerke. Nach 1945 produzierte hier sogar eine Fabrik den köstlichen Harzer Käse.
Natürlich wohnten in der Kastanienallee auch viele Kleintierhalter. In den letzten Kriegstagen und in den ersten Friedenstagen spielte der hiesige Kohlenhändler eine große Rolle. Da abends strenge Ausgangssperre angeordnet war, entstanden illegal hinter den Häusern von Gehöft zu Gehöft privat angelegte Trampelpfade. Die Frauen erreichten so auch abends den Kohlenhändler Glotz, der unter einem offenen Schuppen mit großem Schleppdach für sie ein Nachtlager eingeräumt hatte, das er von vorn mit einer Reihe Briketts zustapelte. Somit waren die Anwohnerinnen vor Vergewaltigungen sicher und ihrem Beschützer sehr dankbar.
Übrigens wurde noch in den letzten Kriegstagen eine große Flak, „dicke Berta“ genannt, aus der nahegelegenen Flakstellung, wo dieses Geschütz auf Schienen hin-und herfuhr, auf die Kreuzung Kastanienallee, Ecke Reichskanzlerdamm (jetzige Friedrich-Engels-Straße) gerollt. Sie sollte dem „Endsieg“ dienen. Gleich daneben hatten sich viele Bewohner der Kleingärten und Behelfsheime an der Kastanienallee in Tiefbunker ängstlich verkrochen.
Am 22. April 1945 war in unserer Straße der furchtbare Krieg vorbei. Aber noch viel Schlimmes für die Kastanienallee brachte das Ende des Zweiten Weltkrieges. Junge deutsche Soldaten, ausgebrochen aus dem Hochbunker am Humboldthain, kamen am 2. Mai 1945 hier lang und dachten, in Bernau auf die Armee Wenk zu stoßen. Sie kamen nicht weit und sicherlich alle ums Leben.
Im folgenden Winter 1945/1946 durften die Anwohner der Straße jeden zweiten Kastanienbaum fällen und haben so der bitteren Kälte getrotzt. Langsam konnten auch die drei ortsansässigen Gärtnereien, die einst ebenfalls auf Bauernland entstanden waren, neben ihrem Soll an Gemüse wieder Blumen anpflanzen und verkaufen.
Die Bewohner der Kastanienallee wurden aber auch zu sich selbstversorgenden Leuten. Überall entstanden kleine Gemüsegärten, wo ein Stückchen Land übrig war. Die Mieter der Kastanienallee 20 erschlossen sich sogar
das etwas breitere Straßengelände bis zum Zingergraben, zäunten es ein und bauten dort vorwiegend Gemüse, Kartoffeln sowie ein paar Blumen an. Auch die Kleintierhaltung war gang und gäbe.
Wie andere 21 Gartenbaubetriebe in Niederschönhausen, so traten auch die Gärtnereien von Nordend nach 1961 der Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft (GPG) „Blühende Zukunft“ bei. Auf diesem damaligen gärtnerischen Areal stehen heute sogenannte Vorstadtvillen.
Auf dem früheren Bauernland der bekannten Rosenthaler Familie Bratvogel, den Winkelwiesen, entstand ein anderer Neubaukomplex. Nach einem Vorfahren, er war früher ein Gemeindevertreter im Dorf, wurde in dem neuen Wohngebiet eine Straße benannt.
Seit 2004 haben wir auch noch das von den Menschen gut angenommene Rosenthal Center dort, wo sich Friedrich-Engels-Straße und Kastanienallee kreuzen mit einem großen Parkplatz für die Kunden. Vor langer Zeit befand sich dort das Gelände des Wasserwerkes. Anfang des 20. Jahrhunderts baute man auf diesem Territorium die „Graue Schule“. Sie wurde 1944 zerbombt.
Nach dem Kriege auch von der Firma Hermann Jauert für Baumaterialienherstellung noch notdürftig genutzt, versorgten sich die Anwohner dort mit Brennholz sowie anderem Material von dem verfallenen Schulgebäude. Unter
Mithilfe von breitesten Bevölkerungskreisen wie Lehrer, Eltern, Patenbrigaden im VEB Bergmann Borsig und dem Volksgut bekam auch die Baracke auf dem Schulgelände in der Rosenthaler Hauptstraße auf diesem Wege
ein Fundament.
Das beschriebene Areal an der Kastanienallee wurde danach vom VEB Bergmann Borsig mit einem Arbeiterwohnheim neu bebaut. Nach 1989 zogen dort Asylbewerber ein. Immer noch standen auf dem Gelände die schönen alten Kastanien aus meiner Schulzeit. Erst ungeschickte Planung beim Bau des Rosenthal Centers machte ihnen endgültig den Garaus.
Eine nahezu strategische Bedeutung erlangte unsere Kastanienallee nach dem Mauerbau im Jahre 1961. Kurz hinter Rosenthal und Wilhelmsruh war die Welt für uns zugemauert. Die Straßen waren für den Durchgangsverkehr gesperrt. Nur der VEB Bergmann Borsig beförderte seine produzierten Turbinen auf dem Straßenweg durch die Kastanienallee. Aber ein anderer Transport nahm zu. Die Mannschaftswagen mit den Grenzsoldaten fuhren zu jeder Tages- und Nachtzeit durch unsere Straße an die Grenze zum Dienst.
Sicherlich deshalb wurde die Kastanienallee ab Hausnummer 20, dem etwas neueren Teil, zweispurig ausgebaut. Nun stand eine Reihe der Kastanien plötzlich in der Mitte. Ohne stabilisierende Arbeiten an ihrem Untergrund bekam die
Straße eine verhältnismäßig dünne Bitumenschicht aufgetragen.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Gelände Kastanienallee/Ecke Eschenallee. Beinahe wären wir Einwohner noch berühmter geworden. Ein halbes Jahr vor der Wende wurde ein Gebäudebau fast vollendet, an dem stand, daß hier der ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik seinen Dienst- und Wohnsitz haben wird. Alles aus edelstem Klinker gebaut. Der hohe Eisenzaun mit seinen Säulen (noch heute sichtbar) der Form angepaßt. Nur ein barackenähnlicher „Wurmfortsatz“ aus ekligem Beton sollte laut Aussage des Architekten den „Pfahl im Fleische“ darstellen. Das Ganze natürlich atombombensicher. Was nun tun ab 1990 mit dieser teueren Investruine in Berlin? Oft annonciert, aber nie vergeben! Endlich kam die Firma ARCA, die gerade ihr fünfjähriges Betriebsjubiläum zu feiern gedachte. Sie tat es in der Baustelle kulturell mit dem Palast-Orchester und seinem Sänger Max Rabe sowie mit einem brasilianischen Ballett (oben ohne!). Alle Anwohner waren zu dieser „Abrissparty“ eingeladen. Die Beseitigung der Ruine erwies sich als sehr schwierig. Mit mehreren modernen Vorstadtvillen hat die Firma nun an dieser Stelle etwas Schmuckes hingebaut.
Heute, im Jahre 2005, macht die Kastanienallee einen zerfahrenen, schlechten Eindruck. Sie wird immer stärker durch den Werkverkehr vom Pankow-Park, durch Schwerlaster von Alba und vom Recyclinghof montags bis freitags sowie auch nachts (trotz verkehrspolizeilich geforderter 30 km/h Geschwindigkeitsbegrenzung) in Mitleidenschaft gezogen. Um die Lebens- und Wohnqualität an der Kastanienallee auch bei zunehmendem Straßenverkehr gegenwärtig
und zukünftig zu erhalten, gab es in jüngerer Zeit immer wieder zu diesem Thema Bürgerversammlungen sowie kritische Eingaben an die Behörden. Bei unserer Allee handelt es sich doch um die einzige Ost-West-Verbindungsstraße im Norden von Berlin, da die vorgeschlagene Nordtangente entlang dem früheren Grenzstreifen als vernünftige Alternative nun doch keine Realität wird (Somit ist die Kastanienallee die aktuelle „Ersatz-Nordtangente“!)
Bleibt das Problem: Was wird einst besonders aus dem ältesten Teil unserer Straße, wo die Breite von Hauswand zu Hauswand nur 18 Meter beträgt? Wenn die Kastanienallee von Wilhelmsruh kommend mehrspurig ausgebaut wird, endet sie bei uns ab Eschenallee wie in einem Trichter (Nadelöhr), bevor die B96 erreicht wird. Wird unsere liebe, alte Straße auch weiterhin die hohen Anforderungen verkraften?
Viel hat sie miterlebt und wir sollten sie alle gemeinsam schonend behandeln.